Sehen ist ein kreativer Akt. So leicht ist es, in einen schöpferischen Zustand zu kommen

Kreativität. Ein schöpferisches Leben. Aufblühen können. Das ist die große Sehnsucht für kreative Menschen.

Aber ab wann „zählt“ Kreativität? Was muss ich vollbringen, damit ich sagen kann, »ich war kreativ«? Auch wenn die Frage auf Anhieb unlogisch klingt, sitzt sie doch recht fest in unseren Köpfen. Dabei ist Kreativsein eigentlich so leicht, und ein Teil von uns weiß das.

 

Überzogene Erwartungen, eine Standard-Blockade

Die meisten von uns haben eine gigantische Erwartungshaltung an sich selbst. Eingeprägte Sätze wirken in uns weiter. Sätze wie „es muss sehr gut sein, sonst zählt es nicht“ oder „ehe ich anfange, muss ich es schon können“ oder „es lohnt sich nicht in der kurzen Zeit, die ich jetzt habe“.

Damit wirken wir auf unser eigenes kreatives Selbst abschreckend statt einladend. Das, was wir eigentlich dringend möchten, wehren wir durch zu hohe Ansprüche ab, ohne es zu wollen.

Es passiert sogar sehr häufig!

Und manche, die besonders stark entmutigt oder niemals ermutigt wurden, nehmen von vorneherein Abstand davon zu sagen „Ich bin nicht kreativ“.

Das ist bitter, und es ist falsch.

 

Wir alle haben das Potenzial zu Kreativität

Wir sind von Geburt an schöpferische Wesen, die mitwirken wollen und können.

Julia Cameron bezeichnet die Kreativität als natürliche Lebensordnung. „Es gibt eine zugrundeliegende, innewohnende kreative Kraft, die das ganze Leben – uns eingeschlossen – durchdringt.“ Sie sagt, weil wir selbst Schöpfungen sind, bringen wir die Bestimmung mit, Kreativität weiterzugeben, indem wir selbst kreativ sind.

In diesem Artikel verwende ich Fotos von mir. Keine prämierten Bilder von atemberaubenden Bergen oder sowas. Einfach Bilder von Orten, wo ich war und an denen ich etwas für mich Interessantes gesehen habe. Ich habe in diesen Momenten hingeguckt und etwas gesehen (und geknipst).

 

Kreativität – eine schöpferische Haltung

Es kann ganz leicht sein, in eine schöpferische Haltung hineinzukommen.

Und das bedeutet es, kreativ zu sein: Es ist ein Blick, eine Haltung, eine Offenheit für das Schöpferische. Und nicht so sehr die einzelne Handlung oder gar eine bestimmte Leistung.

Gerade der Herbst zeigt uns, wie nah ein schöpferischer Akt ist: Einfach die Schönheit zu sehen reicht schon aus. Mehr müssen wir nicht machen.

Diese reiche Fülle an Farben.

So viele verschiedene Gesichter ein und derselben Landschaft.

Faszination:

Ein schöpferischer Zustand.

 

Genau hingucken

Von einer lieben Freundin habe ich gelernt, auf Foto-Safari zu gehen. Einfach gucken und ganz kleine Details in meiner nächsten Umgebung entdecken.

Wie schön Dinge sind! Ganz normale kleine Pflanzen. Wie anders sie aussehen können, wenn ich mich ihnen mit Interesse widme. Wie erstaunlich viele Pflanzenwesen sind, wenn ich ganz nah hinzoome.

Das funktioniert natürlich auch zu Hause. Mit ein bisschen Muße betrachtet, wirkt alles anders auf mich. Sehr schön und interessant.

 

Spazieren gehen, Schönheit sehen

Julia Cameron empfiehlt in ihren Büchern über den Weg des Künstlers, täglich 20 Minuten spazieren zu gehen und einfach Bilder aufzutanken. Ob es in einem Park ist, auf dem Land oder in der Stadt. In der Stadt besteht laut Cameron die Landschaft aus den Häusern und Menschen, aus den Pflanzen und Tieren vor den Häusern und in den Fenstern.

Es ist ein interessantes Ereignis, hinter einem Fenster eine Katze zu entdecken, die mit schwebender Aufmerksamkeit die Straße beobachtet (und die Spaziergängerin ihrerseits entdeckt).

Ich habe während des Studiums Eismann-Kataloge ausgeteilt, um damit Geld dazuzuverdienen. Einer der Vorteile dieses Jobs war es, die wunderhübschen Vorgärten betrachten. Kleine, schön hergerichtete Welten, die an mir vorbeizogen.

 

Das Sehen verändern, indem ich das Betrachtete vergrößere

Einmal habe ich ausprobiert, mit einem Fernglas ganz normale Dinge anzusehen. Bekannte Dinge mit einem stark vergrößerten Fokus betrachten.

Die Intensität ist enorm! Ein kleiner, noch grüner Tannenzapfen in all seinen Details, wie aus Glas, mit kristallenen Tropfen, von leuchtenden Linien umgeben. Vibrierend vor Lebendigkeit.

Das Sehen selbst verändert sich durch den Fokus.

 

Auch ohne Kamera oder Fernrohr kann ich „hinzoomen“, näher herangehen, langsamer werden, genauer hinsehen und damit das Betrachtete vergrößern.

Das Sehen an sich ist kreativ.

Sehen ist ein kreativer Akt, der dir jederzeit zur Verfügung steht.

Und es verändert unseren Gehirnzustand.

 

Genaues Sehen verändert unseren Gehirnzustand

Darauf gibt es viele wissenschaftliche und künstlerische Hinweise.

In ihrem Buch „Garantiert zeichnen lernen“ bringt Betty Edwards Erkenntnisse der Gehirnforschung: Um nach der Natur zu zeichnen, verwenden wir nicht dieselbe Gehirnhälfte wie zum Lesen und Sprechen. Es sind zwei verschiedene Zustände, das Hingucken und das Verarbeiten mit Sprache. Auch wenn wir aus dem Kopf zeichnen oder Symbole aufmalen, verwenden wir das Sprachareal: Etwas „Bekanntes“ wird wiedergegeben.

Aber wenn wir nach der Natur zeichnen, schaltet unser Gehirn irgendwann auf Raumwahrnehmung, auf ein anderes Sehen.

Das führt in einen meditativen Zustand. Spazierengehen und Schönheit sehen, das bedeutet im Grund, dass wir im Gehen meditieren. Gerade dann, wenn wir genau hinsehen und die sprachlichen Gedanken zurücktreten lassen, meditieren wir.

Noch etwas habe ich beobachtet: Gerade für nervöse Leute – zum Beispiel Menschen mit ADHS – kann Radfahren oder auch Fotografieren sein wie eine auf sie angepasste Meditation: Sie können ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen Punkt richten und sich plötzlich problemlos konzentrieren.

Dabei sind sie auch noch unterwegs und in Bewegung. Nehmen die Welt intensiv wahr. Alles gut, die Unruhe legt sich.

 

Sehen als Erholung von der allgegenwärtigen Sprache

Es ist das genaue Hinsehen, das unseren Gehirnzustand verändert.

Das sprachliche Gehirn wird so viel gebraucht im heutigen Leben: Filme sehen, Bücher lesen, Emails checken, uns unterhalten, schreiben.

Alles voller Wörter. Nie Pause.

 

Auch in meinem Beratungsberuf und vielen meiner Hobbys ist Sprache inklusive. Ich finde es oft schwer, davon wegzukommen.

Da ich gerne schreibe, bin ich auch da wieder in der Sprache unterwegs.

 

(Ein anderes Mal schreibe ich über sprachfreie Hobbys und Beschäftigungen.)

Wie erholsam und wie ganz anders, einfach mal den Kanal zu wechseln.

Nur zu gucken.

 

Den inneren Bildertank auffüllen

Deshalb liebe ich es, in eine Ausstellung zu gehen und einfach nur zu schauen.

Ich habe dazu meine Assoziationen, ja. Aber die lasse ich einfach so dahinströmen. Daran hake ich mich nicht fest, ich gucke einfach.

Nicht »das hätte er anders machen können« oder »das ist nicht sehr künstlerisch« oder gar »angeblich sollen diese Gemälde alle nicht echt sein«.

Wenn solche Gedanken da sind, macht das auch nichts, ich lasse sie kommen und gehen. Sie sind wie leise Geräusche unter Wasser. Sie streifen mich wie ein Raunen von weit weg und ziehen weiter.

Die Gedanken und Wertungen sind nicht das, worum es geht.

 

Ich will nur die Bilder auf das Bildergehirn einwirken lassen. Was da vor mir hängt oder steht, steht für sich. Sehr wohltuend.

Und es tankt den unbewussten Vorrat an Bildern und Assoziationen auf.

Aus diesem Tank können wir bei unserem nächsten kreativen Akt wieder schöpfen.

 

Einfach etwas zeichnen

Julia Cameron empfiehlt auch, für eine Weile einen Zeichenblock überall mitzutragen und Wartezeiten zum Zeichnen zu nutzen.

Egal ob »man zeichnen kann« oder nicht!

Diese Schubladen fördern uns nicht. Wir sind mit ihnen aufgewachsen, ja. Doch wir können lernen, sie zu umgehen, können sie immer mehr hinter uns lassen.

 

Irgendwelche Striche bringt jede Person zustande. Dem inneren Widerstand kann ich manchmal weglaufen, indem ich es „einfach tue“, und zwar schnell. Und da ist dann etwas auf dem Papier, das ich gesehen habe. Beim zeichnenden Sehen nehme ich anders wahr. Die Zeichnungen transportieren etwas Originales.

Vielleicht möchtest du es (wieder einmal) ausprobieren?

Lustig fand ich ein paar schnelle Strichzeichnungen von mir, die beim Abzeichnen kleiner tobender Hunde in einem Park entstanden sind. Diese Kritzelknäuel auf dem Blatt vermitteln viel Bewegungsenergie.

 

Das Erschaffen selbst ist die Belohnung

Von Kurt Vonnegut, einem amerikanischen Schriftsteller, gibt es ein sehr schönes Zitat. Die Quelle weiß ich nicht mehr, ich habe es nur auf Englisch und übersetze es für den Blog nach bestem Wissen. Wenn jemand die Originalquelle kennt, bitte Bescheid sagen!

Hier ist das Zitat:

„Geh in die Künste.
Ich meine es ernst:
Die Künste sind keine Art, einen Lebensunterhalt zu verdienen.
Sie sind eine sehr menschliche Art, das Leben erträglicher zu machen.

Eine Kunst zu praktizieren, egal wie gut oder schlecht,
ist eine Weise, deine Seele wachsen zu lassen, verflixt.
Sing unter der Dusche.
Tanz zu Radiomusik.
Erzähl Geschichten.
Schreib einem Freund ein Gedicht, selbst wenn es ein lausiges Gedicht ist.

Tu es so gut, wie du irgend kannst.
Du wirst eine enorm große Vergütung erhalten:
Du wirst etwas erschaffen haben.“

Eine solche Einstellung gibt die Freiheit, uns kreativ an der Welt zu beteiligen.

 

Wenn wir etwas Kreatives tun, haben wir Teil am schöpferischen Strom. Das können wir jederzeit tun.

Und sogar bevor wir etwas selbst erschaffen, können wir an der Schöpfung teilhaben, indem wir sie wahrnehmen.

 

Trödeln hilft gegen Hektik

Schon fünf Minuten verändern etwas.

Was ich sehr gerne mache: Auf dem Weg von der Arbeit zum Auto trödele ich. Ich gehe absichtlich langsam.

Nicht hetzen, nicht »ich muss schnell heim, schnell noch einkaufen, schnell ausräumen« und dann bin ich daheim, immer noch in einem schnellen Zustand, fühle mich gestresst, muss weitere Erledigungen machen, frage mich entnervt, wie ich wieder »runterkomme«.

Dann bin ich immer noch im selben Stress wie da, als ich aus der Arbeit kam.

Langsamer werden ist etwas, das ich jederzeit tun kann.

Jetzt.

Selbst wenn ich nur einen Fußweg von einer Minute habe, kann ich den nutzen, um zu »trödeln«. Und zu gucken.

Wie ein Kind, das es auf dem Weg von der Schule heim nicht eilig hat. Hier und da herumzugucken, als hätte ich das alles noch nie gesehen.

Siehe da, habe ich tatsächlich nicht: Ich entdecke jedes Mal irgendetwas Neues. Und schon bin ich in einem träumerischen Zustand.

Anders drauf.

Ein kreatives Lebensgefühl ist immer nur einen Schritt weit entfernt.

 

Wie ist es bei dir? Kennst du solche Gewohnheiten? Welche Formen, Schönheit zu sehen und die Welt wahrzunehmen, nutzt du?

Übrigens ist dieses Logbuch moderiert – das bedeutet, Kommentare landen erst im Email-Eingang der Administratorin, ehe sie veröffentlicht werden. Eventuelle böse Kommentare (von sogenannten „Trollen“, also Leuten im Internet, die immer lästern müssen) werden gar nicht erst veröffentlicht.

Daher ist dieses Board für dich sicher, wenn du etwas von dir mitteilst. Ich schreibe für sensible, kreative Seelen und möchte mich gerne mit dir austauschen.

 

Hier geht es zu anderen Artikeln von mir, die dich interessieren könnten:

Zeit des kreativen Aufbruchs – Wir brauchen Kreativität, um gesund zu sein

Träume und Balance gehören zusammen – Warum Erfüllung nur mit Selbstfürsorge funktionieren kann

„Ich will, aber es geht nicht, weil…“ Teil 1: Seelische Blockaden.

 

Herzliche Grüße

Deine Jana Lindberg

4 Replies to “Sehen ist ein kreativer Akt. So leicht ist es, in einen schöpferischen Zustand zu kommen”

  1. Hallo Jana,
    dieser Text hat mich unmittelbar angesprochen! Ich bin zur Zeit immer wieder mit dem Fotoapparat unterwegs, um die verschiedenen Stimmungen der Jahreszeiten einzufangen und Tiere und Pflanzen zu fotografieren. Mir gefällt dein Satz „das Erschaffen selbst ist die Belohnung“, denn genau so geht es mir. Wenn ich aus der Hektik des Alltags in so einen „Fotospaziergang“ wechsle, komme ich in einen anderen geistigen Zustand, ganz von selbst. Das ist wunderschön und sehr lohnend für mich. Und eine „Erholung von der allgegenwärtigen Sprache“ ist es auf jeden Fall.
    Ich mag deine Blogbeiträge sehr!
    Birgit

    1. Hallo Birgit,

      dein Kommentar freut mich wirklich sehr! Diese Fotospaziergänge klingen wie ein lebendiges und abwechslungsreiches Kreativhobby. Genießerisch. Wie schön. Viel Freude weiter dabei!

      Herzliche Grüße
      Jana

  2. Liebe Jana
    vielen Dank für diesen Beitrag. Du schilderst das, wofür ich gerade keine Worte fand, denn ich versuchte gerade herauszufinden und zu formulieren, was es ist, was mir beim Fotografieren soviel Freude und Frieden bringt. (es ist das Auswählen des Bildausschnitts, das Beobachten des Motivs vorher – und dabei eben die Bewunderung der Schönheit, dessen, was ich da sehe und der meditative Zustand, der sich dabei bei mir einstellt.)

    Besonders berührt mich
    „Das Sehen an sich ist kreativ. Sehen ist ein kreativer Akt, der dir jederzeit zur Verfügung steht.“

    Astrid

    1. Liebe Astrid,

      ich freue mich sehr über diese Rückmeldung! Sehr kostbar und bestärkend für mich, erst recht von einer Fotografin. Du beschreibst das so schön, dass das Fotografieren dir Freude und Frieden bringt, die Bewunderung der Schönheit und der meditative Zustand. Ich kann das richtig spüren.

      Noch eine Ergänzung: Für das Zeichnen empfiehlt ein berühmter Zeichner und Zeichenlehrer, vor dem Zeichnen eine Meditation zu machen und ganz vom Werten und Assoziieren wegzukommen zum Sehen und Wahrnehmen. (Cliff Wright in Die Magie des Zeichnens.) Wir nehmen dann anders war und erwischen die Motive ganz anders. Beim Fotografieren sicher genauso.

      Danke für das Feedback und die interessanten Aspekte!
      Jana

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